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DIE ROTE JUNGFRAU
F. ARRABAL

 

I

Am ganzen Leib bebend schreibe ich Dir. Wie außerordentlich gewissenhaft, frei von jeglicher Künstelei und Täuschung, berichtete ich den Polizisten und Richtern, warum ich Dich habe opfern müssen. Seitdem bin ich, einzige Vertraute meiner eigenen Pein, von solcher Unruhe überwältigt, daß es keinen Schmerz gibt, den ich nicht in meinem Herzen empfunden, noch Qualen, die ich nicht gelitten und erfahren hätte. Ich habe so viel Unglück erleiden müssen!
Wie habe ich während des Prozesses gefürchtet, als Irre eingestuft zu werden! Mein Anwalt wollte einen solchen Betrug zum Schlußstein seines Plädoyers machen. Welche Niedertracht, wäre ich unter diesen Deckmantel geflohen, um meine Strafe zu verkürzen! Fabeln und Märchen verabscheue ich, denn nie habe ich um des falschen Scheines willen gelogen. Und doch wagte mein Verteidiger in seiner Argumentation anzudeuten, daß nur eine Wahnsinnige ihre eigene Tochter töten könnte. Sofort stellte ich behutsam und beharrlich vor dem Gericht die Wahrheit wieder her. Es war so lebenswichtig, daß die Gründe der Opferung aller Welt offenbar würden! Hier stand weitaus mehr als mein Leben auf dem Spiel.
Allein habe ich Dich empfangen, ohne andere Hilfe als die zu Deinem Keimen in meinem Schoß
unentbehrliche. Und allein wandte ich meinen ganzen Eifer dafür auf, Möglichkeiten zu finden, Dich auf dem Weg der Wissenschaft, des Wirklichen und des Wahren voran zubringen. Zu Recht hat man Dich mit Lob überschüttet, Dich in Deiner frühesten Kindheit ein Wundermädchen, Jahre später ein hochbegabtes Märchenwesen und schließlich, eine Wahrheit aussprechend, eine übernatürliche Erscheinung genannt. Aber niemand wußte, daß Du weit mehr warst, denn Dir sollte ein unvergleichliches Schicksal beschieden sein. Doch während der Morgenstern sich anschickte, Dich zu begrüßen, hast Du es vorgezogen, Dich in den Abgrund zu stürzen.
Du, mit dem Gebaren einer Botin, bist nicht mehr an meiner Seite. Nichts gilt der Prophet im eigenen Land. Ich schreibe Dirjetzt, wo Du so fern von dieser Welt weilst. Deine Hülle hat sich aufgelöst und verflüchtigt. Allein die Erinnerung an Dich leuchtet und besteht fort. Wie ich leide! In diesen sechzehn Jahren des Glücks (von MCMXIX bis MCMXXXV) haben wir uns gemeinsam mit Bescheidenheit und Güte den Gesetzen der Natur gefügt. Wie glücklich waren wir!

 

II

Am VI. Januar MCMXVIII, genau ein Jahr vor Deiner Geburt, wurde ich von einer überraschenden Erleuchtung geblendet, die mich aus meiner Unwissenheit erlöste und die erste Phase meines Lebens beendete. Ich war dabei, in der Bibliothek meines so sehr geliebten Vaters zu lesen, als aus dem Nichts der Funke der Offenbarung erschien. Eine kurze Lebensspanne, ich war doch erst neunzehn, hatte aus mir bereits eine Alte gemacht. Doch dieser plötzliche Blitz verzehrte die alte Frau, die ich wie eine Last mit mir trug, und ich erstand wieder auf. Eitelkeiten, Illusionen, Irrtümer, mein Name - alles zerfiel zu Staub. Wie Phönix wurde ich aus dieser Asche wiedergeboren als die, die Du gekannt hast, bereit, glücklich zu sein, und vor allem, was unendlich viel wichtiger war, voller Güte. Mein Leben begann mit einer solchen Inbrunst!
Ich verließ meine Kindheit ausgestattet mit einer sorgfältigen Ausbildung, die mir meine Eltern durch Lehrmeister zukommen ließen. Mit Hilfe dieses Viatikums rissen sie meine rebellischen Wurzeln aus und bereiteten mich arglos auf eine zukünftige Rolle als Gattin vor. Auf der Schule brachte man mir Nähen und Gehorsam bei, ich lernte, Schokoladenkuchen zu machen und Kohle-zeichnungen anzufertigen, man schmückte mein Wissen ein wenig mit den Grundbegriffen der
Arithmetik und der Geschichte aus, man machte mich mit Stickerei und Volkstänzen vertraut. Nie habe ich mich dem Gesetz entzogen. Wie konntest Du es wagen, Dich dagegen aufzulehnen, wo Du doch nur ein großes Kind warst?
Von meinem achten Lebensjahr an habe ich Klavier gespielt, mit neun kannte ich die Anstandsregeln des Marquis de Flamel auswendig, und mit zehn konnte ich nach englischer Art schönschreiben, einen Brief an den Präfekten abfassen oder vor einer Königin den Hofknicks machen.
Ich war die zweitälteste Tochter eines klugen, großzügigen, verständnisvollen, rechtschaffenen und wohlwollenden Mannes. Ich habe Dir nie von ihm erzählt, obwohl ich seine Lieblingstochter war. Noch bevor ich meinen zwanzigsten Geburtstag feierte, entdeckte ich in der Bibliothek jene geheimen Bücher, die mich verwandelt haben. Gleich zu Beginn der Lektüre der ersten Abhandlung streifte meine Begeisterung die Grenzen der Ekstase. Ich fühlte mich unfähig, mich dem schwindelerregenden Zauber, der unendlichen Herrlichkeit dieses eher übernatürlichen denn menschlichen Werkes zu widersetzen.

III

Ich wiegte mich in Hoffnungen, bewirkte aber, indem ich meinem geliebten Vater von meinem Plan erzählte, daß meine Illusionen zerstoben. Ich verkündete ihm, und gewann damit sofort seine Aufmerksamkeit, daß ich mich danach sehnte, Mutter eines ernsten, einzigartigen und herrlichen Geschöpfs zu sein, eines Wesens, das die Natur mit allen ihren Gefälligkeiten bedacht hätte, eines Sohnes, oder besser noch einer Tochter, die ich von ihrer Geburt an zur Verwirklichung des Werkes heranbilden würde. Das fleischgewordene Wunder!
Doch mein Vater verhielt sich wie ein Mann ohne Einsicht und von skeptischem Gemüt. Er hatte Augen, doch er konnte nicht sehen, nicht einmal das erahnen, was das Wesen meines Plans barg. Bekümmert über meine Schwärmerei, ersann er den törichten Ausweg, mich zu verheiraten.
Mit welcher Kraft habe ich immer schon die Lüge bekämpft! Ich konnte meinen Plan nicht unter dem Joch der Ehe ersticken. Vom ersten Augenblick an war ich entschlossen, mein Ziel auf dem raschesten Weg zu erreichen.
Die Gedanken meines Vaters begannen so ziellos umherzuschweifen, daß er sich in Winkelzüge und verworrene Vorhaben verbiß. Welch unangenehme Überraschung! Die Unvollkommenheit als Geißel der Menschheit flößte mir solchen Ekel und solch tiefe Abscheu ein! Wie sehr bedauerte ich, nicht über eine noch zuverlässigere und genauere Sprache zu verfügen, um meinem Vater das Wesen des Plans verständlich zu machen, den ich verwirklichen wollte, indem ich einem Menschen das Leben schenkte!
Ich habe immer mit meinem Kopf nachgedacht, und nicht mit dem Bauch wie so viele Männer und Frauen. Der langen Kette aus unbeholfenen Sklaven und faden Herren würde ich kein weiteres Glied hinzuschmieden. Darum wollte ich Mutter sein und keine gemeine Legehenne.
Wie schockiert war mein geliebter Vater, als ich ihm ankündigte, ich wäre bereit, meine Jungfernschaft darzubringen! Trotz seiner Güte erfaßte er nicht die unvergleichliche Harmonie derer, die sich, wie ich, im Einklang mit ihrem Gewissen fühlen.
Das Projekt machte mich überglücklich, ich lebte es Tag und Nacht mit solcher Zuversicht. Du würdest geboren werden, um während Deines irdischen Aufenthaltes das erstaunlichste Schicksal zu erfahren.
Ich liebte Dich bereits mit solcher Inbrunst!

IV

Mein geliebter Vater sagte, meine Lektüre sei im Begriff, mir das Gehirn auszutrocknen: Die Zeit, die ich mit Lesen verbringe, sei für mich weder Zerstreuung noch Gewinn, sondern, ihm zufolge, gänzlich verloren. Er sprach zärtlich und behutsam zu mir, als wäre ich krank. Mal ermahnte er mich, mal übte er Nachsicht und wiederholte, daß ich nur ein junges Mädchen sei, noch nicht trocken hinter den Ohren, und daß diese Bücher, die Lug und Trug anpriesen und die ich so gierig und ausschweifend läse, mir mit ihren schädlichen Nichtigkeiten den Geist verwirrten.
»Du bist so seltsam geworden!«
Lange vor Deiner Geburt hatte ich die Vorahnung, Du würdest ein Mädchen sein. Ich fühlte mich von eigenartiger Leidenschaft und Hoch stimmung ergriffen! Ich spürte und ahnte, daß Du all das sein würdest, was ich selbst nicht mehr sein könnte.
Mein Vater wollte mich mit einem dreiund-zwanzigjährigen jungen Mann namens Nicolas Trévisan zusammenbringen, der von einem Nimbus von Seriosität umgeben war, denn ihn erwartete, nach soeben abgeschlossenem Medizinstudium, eine gutgehende Praxis. Er hatte mir drei mehr rührselige als verliebte Briefe geschrieben, die mit berühmten Versen gespickt waren.
Der Garten meiner Tante Sarah wurde zum Ort des Stelldicheins ausersehen und die Teestunde
zum Köder. Auf diese Weise gehorchte ich meinem Vater und schützte meinen Plan. Meine Tante weigerte sich, uns allein zu lassen, nicht etwa weil ihr mein Lebenswandel Anlaß zur Besorgnis bot, sondern weil sie das Gerede der Leute fürchtete.
»Die Nachbarn sind imstande, dich zu verkennen und dir Liederlichkeit zu unterstellen.«
In der Nacht, die der Verabredung vorausging, träumte ich, daß ein kleines Mädchen, illuminiert von sämtlichen Farben des Spektrums, am Himmel flog. Es ritt auf einem Adler, der gemächlich seine Kreise zog. Ein stetiger, feiner und endloser Hauch brachte es wie durch Zauberei der Erde entgegen.
Stunden später träumte ich, daß ein mit Schuppen bedeckter Blindenführer ein von den Strahlen der Sonne geblendetes junges Mädchen geleitete. Auf halber Höhe flatterte ein Page, einen Kompaß in der Hand.
Dann hörte ich eine weibliche Stimme zu mir sagen:
»Nichts als Wissen, Reichtum und Gesundheit fühle ich in mir.«

V

Ich verbrachte die Zeit vor Deiner Geburt damit, nachts in abgelegten Kleidern, die ich auf einem Speicher gefunden hatte, auszugehen. Darüber nachsinnend, wie ich meinen Plan würde durchführen können, schlenderte ich durch die Hafengassen, als ich plötzlich Chevalier begegnete, auf dessen Lebensweg die Verderbnis lag.
Lächelnd näherte er sich mir.
»Du suchst einen Mann mit deiner Laterne?«
Da ich keine bei mir trug, verwirrte mich seine
Frage. Aber ich antwortete, wie Diogenes, mit der
Wahrheit und sagte ihm, daß ich in der Tat einen
Mann suche.
Chevalier lachte aus vollem Herzen.
»Auch du suchst also einen Mann, armes Persönchen!«
Niemand hatte mich je mit einem derart unzu-treffenden Ausdruck bedacht. Ich bekam Lust, diesem »armen Persönchen« das Maul zu stopfen.
»Argert Euch nicht über meine Mistblitze, Euer Gnaden. «
Er drückte sich in so eigenartiger Form aus, daß es schien, als sei er ein Anhänger des Paradoxen. Das Flackern des Wahns erhellte ihn mehr als das Licht der Vernunft.
»Ich bin der Tröster der Ungetrösteten.«
Lauthals hielt er mich zum besten und erteilte lärmend seine Ratschläge, als sei er wirklich, wie er
selbst sagte, die gastliche Zuflucht der Unglücklichen. Aber das eigene Unglück vermochte keiner zu vertuschen, geschweige denn seine Flut aufzuhalten. So viele Jahre lang haben wir Schulter an Schulter miteinander wehmütige Erinnerungen angehäuft!
Weitaus mehr als ein Tröster strömte Chevalier in Wirklichkeit Barmherzigkeit aus, als wäre er ein lebendes unantastbares Asyl für die Verfolgten. Seine Hirngespinste hatten ihre Wurzeln in absurden Launen. Seine Ungenauigkeit machte mich ratlos, er drückte sich gleichsam stolpernd aus; der von mir immer bewunderte genaue, einfache und schnörkellose Ausdruck war ihm fremd.
»Ich bin ein verzauberter Schmetterling und manchmal eine Hummel mit giftigem Stachel.«
Im Morgengrauen verabschiedeten wir uns voneinander. Dann, als ich gerade einschlief, warf er ein Steinchen gegen mein Fenster.
»Komm, wir klettern in die Tonne.«

VI

Mitunter redete ich mit unverhüllter Zärtlichkeit zu den Steinen, und andere Male befragte ich sie über alles Göttliche und Menschliche. Von Deiner Geburt trennte mich allein der äußerst kurze Ruck der Empfängnis. Aber wie hermetisch und schwer verständlich erschien ich denen, die mir zuhörten, trotz meiner Leidenschaft für die Genauigkeit! Gegen meinen Willen wurde meine Sprache gewunden, als versuchte ich, den anderen meine Gedanken mitzuteilen, ohne mich schließlich und endlich verständlich zu machen.
Wie aufgeregt war meine Tante, als die Stunde der Verabredung mit Nicolas Trévisan in ihrem Garten kam! Sie wollte mich nicht mit ihm allein lassen, nicht das Anempfehlen meines Vaters mit Füßen treten. Meine Entschiedenheit machte sie untröstlich, doch letztlich beugte sie sich meiner Unnachgiebigkeit.
Der Glaube führte mich unmittelbar zur Wahrheit. Auf dem Weg zur Gewißheit gab es weder Raum für Abschweifungen noch für Irrfahrten im kapriziösen Labyrinth der Phantasie.
Nicolas wußte mir nicht mehr zu sagen als das, was er in seinen Briefen bereits dahergeschrieben hatte. Im Gespräch wiederholte er mit heftiger Stimme, daß er verliebt sei. In mir festigte sich bei dieser Gelegenheit noch mehr die Überzeugung, daß es weder Zufall noch Koinzidenz gibt, denn
alles ist vorhergesehen und vorbestimmt. Weder er noch ich konnten den unerschütterlichen Willen des Schicksals abändern.
Meinen Blick auf ihn heftend, ließ ich ihn wissen, daß ich alles, was die Unvollkommenheit in ihren Fängen hält, verabscheute. Verdutzt sah er mich an, und aus seiner Miene schwanden Größe, Erhabenheit und Schönheit.
Ich nutzte die Gelegenheit, das Unvereinbare zu vereinigen. Ich versuchte dieses Mißverständnis aufzuklären, obwohl mich nichts mit seinem Leben, und noch weniger mit seinen Allüren, verband. Aber dank Nicolas vermochte mir mein Körper in seiner Weisheit die zu Deiner Geburt notwendigen Merkmale und Keime zu gewähren.
»Ich befinde mich im günstigsten Zeitpunkt meines Zyklus. Vor zehn Tagen hat meine Regel aufgehört. Und meine Menstruation ist von absoluter Regelmäßigkeit.«
Einige Augenblicke lang, nachdem ich ihm meinen Plan in groben Umrissen anvertraut hatte, erfreute ich mich einer friedlichen Stimmung und einer sanften und unbeschwerten Verfassung!

VII

Mit Nicolas Trévisan stürzte ich mich in meinen ersten Fehlversuch, Mutter zu werden.
Meine Schwester Loulou hatte in der Nachbarschaft eine ungute Erinnerung und einen noch schlechteren Eindruck hinterlassen. Sie führte ein liederliches Leben, hastete durch New York, vergessend, daß eine ihrer Extravaganzen ihr gleich ein Kind eingebracht hatte. Ein Luder namens Otero nahm sie in ihren Kongreß der Nacht-schwärmer auf. In dieser Gesellschaft verbrachte sie ihre Abende in namhaften Restaurants und auf namenlosen Dielen. Mademoiselle Otero, eine ehemalige Ballerina, war ihr um ein Vierteljahrhundert voraus und nahm ihr die Hälfte ihrer Einkünfte ab. Es war für mich etwas Entsetzliches, mit meiner Schwester verglichen zu werden! Sie war ein derart abschreckendes und von Wollust durchtränktes Wesen!
Es schien mir klug und ratsam, Nicolas de Trévisan meine Anatomie, gynäkologische Beschaffenheit und die Arbeit meiner innersekretorischen Drüsen auseinanderzulegen. Wie verwundert sah er mich an! Bestimmt dachte er an meine Schwester, doch waren meine Instinkte und nicht ihre jene Spinne, die meine Natur wob.
Der Helligkeit der Sonne ausweichend, lebte Loulou gleich einer Rose des Nordens nur des Nachts. Die Geschichten von ihren Schwanger-
schaften, ihrer Rastlosigkeit und ihren Fehltritten gingen von Mund zu Mund und wurden so wie von selbst aufgebauscht. Wie tief stieg sie durch ihre selbstgewählte Flucht vor der Vollkommenheit hinab in die Finsternis! Darum legte ich Nico-las meinen Plan gelassen dar:
»Ich wünsche mit Ihnen eine fleischliche Vereinigung, jedoch ohne Lust, Begierde oder Leidenschaft.«
Zum ersten Mal sprach ich hiermit das Vorwort zu meinem Vorhaben laut aus. Ich nutzte sein Schweigen, um Dich zu preisen. Wie würdest Du Dich von den Kreaturen unterscheiden, von denen die Erde nur so wimmelt! Du würdest die Tatkraft und Tugendhaftigkeit verkörpern, um die frohe Botschaft verkünden zu können.
Nicolas sah mich wie vor den Kopf gestoßen ungläubig an. Ich beruhigte ihn mit der ganzen Kraft meiner Gefühle und meiner Wahrheit. Nie hatte ich andere Ziele und Hoffnungen im Sinn, als meinen Plan zu verwirklichen, und niemand konnte meine Selbstlosigkeit beflecken.
»Das Feuer erlischt, wenn das Werk vollbracht ist.«

VIII

So viele geheime und verdeckte Abgründe durchsetzen den Geist wie verborgene Sterne das Firmament. Nicolas Trévisan rang mit sich, sein Gesicht wurde verwirrt und melancholisch, die Züge durch die Ergriffenheit sonderbar fratzenhaft entstellt.
»Ich bin sicher, Sie sind sich über das, was Sie mir sagen wollen, nicht im klaren. Meine Liebe zu Ihnen ist ausschließlich platonisch.«
Durch diese maliziöse Bemerkung gab er mir zu verstehen, daß mich von Loulou nur ein Hauch trennte. Meine Schwester tanzte mit verkommenen Aristokraten und brach ständig in anzügliches Gelächter aus. Unbekümmert hatte sie in New York gelebt, ohne sich an Benjamin zu erinnern, den Sohn, den sie verlassen hatte. Ich verzichtete auf Kindermädchen, Ziehmütter und sonstige Gouvernanten und nahm mich beherzt und resolut seiner an. Doch die Regierung nahm ihn mir einige Jahre später weg, unter dem Vorwand, mir fehle die erforderliche Mündigkeit und Reife, da ich selbst minderjährig sei.
Ihre Selbstzerfleischung ließ Loulou körperlich verkommen, und zwar auf sehr vulgäre Weise. Auf das, was ihre eigene Zerstörungswut unversehrt gelassen hatte, wurde dann keine größere Rücksicht mehr genommen. Bevor das Laster ihr Gesicht durchfurcht hatte, war sie von ätherischer, anmuti
ger Schönheit gewesen. Und doch hielten die meisten ihren Verfall für Glanz. Als sie im Alter von neunzehn Jahren nach New York ging, konnte sie nur unbeholfen Gesten nachahmen, kleidete sich ohne Anmut, traf unbedachte Entschlüsse, handelte charakterlos und kopierte, statt ihre Kreativität zu entwickeln. Mit welcher Wollust gab sie sich der Lüge hin! In welch seltsamer Welt lebte auch ich!
Den Glauben in mich aufnehmend und mich in Demut übend, unterwarf ich mich in Gebärdung und Sprache meinen Gedanken; darum offenbarte ich Nicolas Trévisan meinen Plan aufrichtig und freimütig.
»Ich rede nicht von Liebe. Ich biete Ihnen ein einzigartiges Vorhaben an, das, wenn Sie darauf eingehen, Ihrem ganzen Leben zur Ehre gereichen wird: Ich möchte, daß Sie der Vater meiner künftigen Tochter werden.«
Nicolas Trévisan begriff meine Worte nicht und suchte nach den Ecken und Winkeln, in denen er meine ungestümen Gelüste und stürmischen Leidenschaften verborgen glaubte.
»Sie wollen mich heiraten.., oder wie?«
Ich träumte, daß Sonne und Mond sich in der
Urflüssigkeit aus Samensaft badeten. Das äußere
Schwefelfeuer zersetzte, verflüchtigte, verzehrte
schließlich die Flüssigkeit und verwandelte sie in
Quecksilber.


IX

Noch vor Deiner Zeugung habe ich gewußt, daß Du schon warst, von aller Ewigkeit an. Du gingst dem Sprudeln der Urquellen der Erde, den ersten Wolken, jenen himmlischen Behältnissen, voraus. Du hast von jeher existiert, auch als der Leib Deines Geistes noch nicht zerstückelt war. Das war mir sogleich bewußt, als ich den Plan ersann. Nicolas Trévisan sagte ich die ganze Wahrheit.
»Ich möchte nicht heiraten, ich will Mutter sein. Es geht mir darum, mich mit Ihnen für den einen Augenblick zu vereinigen, einzig und allein, um schwanger zu werden. Die Frucht dieses einmaligen fleischlichen Akts wird zu gegebener Zeit das Werk vollenden. Auf diese herrliche Zukunft habe ich mich mit Demut, Weisheit und Energie vorbereitet. Meine Tochter wird der symbolische Honig sein, die Himmelspforte, der Hort der Erkenntnis, die Palme der Geduld, die mystische Rose, die Blume zwischen den Dornen, das geistige Gefäß. Sie wird all das verwirklichen, was ich, aus Mangel an Vorbereitung und Zeit, nicht habe erlangen können. Ich habe die Offenbarung so spät empfangen, daß mich die frohe Botschaft nie mehr wird erreichen können; unermüdlich werde ich darüber wachen, daß es zu ihrer Erziehung an nichts fehlt.«
Meiner symbolischen, unwirklichen Hülle beraubt, erschien ich Nicolas Trévisan als die Verkör
perung der Urmaterie. Wie er vor Schrecken schauderte! Dann erhob er sich von der Garten-bank und blickte mich, den Nebelschleier durchdringend, an wie ein besiegter Greis, der ängstlich seine Umgebung beäugt. Besorgt und stumm betrachtete er fassungslos das unfaßliche Wunder.
»Was wollen Sie damit sagen? Ich bin überzeugt, Sie begreifen die Tragweite Ihrer Worte nicht.«
Was als erlaubte Zerstreuung begänne, fürchtete er, könne als widerwärtiges Laster enden. Doch die belebte Materie hat sich noch immer den Wechselfällen des Geistes untergeordnet. Erneut erklärte ich ihm alles:
»Wenn das Wort Fleisch wurde, um unter uns zu wohnen, kann das Fleisch Wort werden, um in meinem Leib zu entstehen. Ich bitte Sie nur darum, für einige Augenblicke Ihr Fleisch in das meinige einzuführen, um in mirjene Tropfen zu hinterlassen, die mein Plan erfordert.«

X

Der Schreck hatte Nicolas Trévisan in meiner Anwesenheit die Röte der Verwirrten ins Gesicht getrieben, er zog wie eine mit aristokratischem Gehabe versehene Aufziehpuppe seinen Hut ins Gesicht und sagte: »Ich muß jetzt gehen. Man erwartet mich. Ich hatte diese Verabredung ganz vergessen.«
Er war aufs äußerste erregt, schwitzte vor Verlegenheit und offenbarte eine erstaunliche Trübung seiner Sinne. Er krümmte den Rücken, Oberkörper und Kopf waren ebenfalls nach vorne geneigt. Seine Hände, die kurz zuvor wie erstarrt schienen, belebten sich. Er zitterte.
»Mache ich Ihnen Angst?«
Dieser plötzlich gealterte junge Mann hatte beschlossen, einer Situation, die er für unerhört und zudem gefährlich hielt, zu entfliehen.
»Entschuldigen Sie mich. Ich gehe.«
Ich fragte ihn, ob es mein Plan sei, der ihn verwirre.
»Adieu.«
Wie ein Offizier knallte er die Hacken zusammen, nahm kurz Achtungsstellung an, deutete eine knappe Verbeugung an und entfernte sich so eilig, daß daraus ein Laufen wurde.
Nach dieser ersten erlebte ich mit meinem Vorhaben weitere ähnliche Enttäuschungen.
Die Essenz meines Plans wurde als zerstörerisch empfunden. Sie rief Abscheu bei den Kandidaten
hervor, die sich in Ankläger verwandelten. Die Vernunft zerschellte an der unzerbrechlichen Mauer der Vorurteile. Wie sie vor mir flohen! Den einen entstieg ich wahnsinnig, dunkel und finster dem Chaos, den anderen schien ich schamlos und amoralisch am Rande eines lodernden Abgrundes zu stehen. Man sorgte sich weniger um mein Aussehen als um meine Tugenden. Perversen Gedanken und Gelüsten ausgesetzt, endeten sie besiegt und starr vor Angst.
In jener Nacht träumte ich, daß sich ein kleines Mädchen zunächst in eine Sirene, dann in eine Nymphe mit einer Krone aus langen, spitzen Nadeln verwandelte. Sie schwamm im Meer mitten unter Haien, und ihren Brüsten entsprangen zwei dünne Strahlen einer weißen Flüssigkeit, die sich mit den Wellen vermischte.


XI

Auf allen Stationen seines Lebens zeigte Chevalier sein wahres Gesicht: Er kam des Nachts zu mir, warf wie am ersten Tag ein Steinchen gegen die Scheibe meines Fensters und wartete auf der Straße, bis ich erschien. Wir gingen gemeinsam bis zum Morgengrauen umher, ohne daß mich Ekel vor seiner Ungeniertheit und seinen Perversionen ergriff.
Chevalier respektierte weder die Wahrheit noch sonst etwas; er erhob weder den Anspruch, große Tugenden zu pflegen, noch glitt er ab in die Enge raffinierter Verstellung. Er redete in einer Weise, die mich ebenso hätte irritieren müssen wie ihn die meine. Mit welchem Ernst sprach er Sätze aus, die, meinem Verständnis nach, ohne Sinn waren:
»Das Wiehern der Seevögel läßt mich erschauern.«
»Meine Eingeweide sind randvoll mit Dolchen und Entsetzen.«
»Ich bin ein trunkener und verfluchter Vagabund unter den Blechschwänen.«
Oft spickte er, ohne Sinn und Verstand, seine Rede mit Worten, deren Bedeutung seiner Phantasie nicht zu folgen vermochte:
»Wie ein Hai aus Blei beißt mich das Proteusgewächs mitten im Schweigen.«
Gegen die betrunkenen Matrosen stieß er dreiste Obszönitäten aus, ohne sich um mich zu sche
ren. Dafür war er entzückt, wenn ich sprach, wenn er mich auch für eingebildet und besserwisserisch hielt. Doch wie gern erst hörte er mir zu, wenn ich von Dir träumte! Wie er Dich schon vor Deiner Geburt hätschelte! Mit tausend neugierigen Fragen zerfetzte er meine Pläne in Stücke, als könnte er sie dadurch entziffern. Ohne eine Spur von Glauben drang er in das Heiligtum ein und irrte auf falschen Fährten umher, doch seine Freude war offensichtlich und ansteckend. Wie sehr ihn die Erzählung seiner eigenen Wanderschaft anregte!
»Kennst du den Piloten Bardon? Sicher nicht, du bist ja so geziert und so lachhaft wichtigtuerisch.«
Wie rätselhaft sein Leben stets blieb. Selbst wenn er mir mit Tausenden abstoßender Details von seinen widerwärtigen Abenteuern berichtete, gelang es ihm nicht, mich zu verletzen.
»Ich habe Himmel und Hölle mit Sternchen aus klingelnder Bronze durchquert. Wie angenehm war es, wenn wir uns umarmten. Ich schnupperte den Schlamm seiner Beine und spürte die ganz frische Materie des Hochzeitslieds. Plötzlich, als ich ihn gänzlich kopflos gemacht hatte, und unter gedämpftem Hörnerklang biß ich ihm in den Nakken.«
Für Chevalier drückte sich die esoterische Tradition der Liebe in einem burlesken Spiel abstoßender Gesten aus. Daher beunruhigten mich seine Worte nicht, obwohl mein moralischer Sinn zu Recht und aufs äußerste angewidert war.


XII

Mein geliebter Vater starb genau zehn Monate, bevor Du die Pforte des Lebens durchschrittst, und entzog sich so meiner Wachsamkeit. Sein Erbe wurde entsprechend den Paragraphen und Klauseln des Testaments aufgeteilt, welche ganz seinen Geist atmeten. Loulou holte ihr Erbteil nicht ab, der Notar ließ es ihr in New York in einem Diplomatenkoffer aushändigen, der so voll war, daß beinahe die Scharniere nachgaben.
Benjamin schickte mir ein Telegramm aus London, wo er ein Konzert dirigierte. Er hatte sein zwölftes Lebensjahr noch nicht vollendet, und doch schien mir eine Ewigkeit vergangen zu sein, seit die Regierung mich seiner beraubt hatte. In den langen ersten Monaten, die er auf dem Konservatorium verbrachte, schrieben wir uns täglich Briefe. Als seine internationalen Tourneen als Konzertpianist begannen, beendeten wir unseren Briefwechsel. Es folgten seine Triumphe als Orchesterdirigent und das Vergessen.
Dieses Telegramm brach das Siegel so vieler Erinnerungen! Um den unermeßlichen Schmerz, den mir der Tod meines geliebten Vaters verursacht hatte, focht sich grenzenlose Sehnsucht. Ich hatte geglaubt, Benjamin aus dem Gedächtnis verloren zu haben, und von neuem dachte ich an ihn, ohne ihn vergessen zu können. Wieder empfand ich die gleiche Hilflosigkeit, die mir den Atem
genommen hatte, als die Regierung ihn ins Konservatorium verschleppt hatte. Diese so schmerzhafte Enttäuschung, die ich erledigt und verwest glaubte, gärte noch mit einer widerlichen Schärfe, die Grabesgestank verströmte.
Der Verlust meines Vaters rief in mir einen so tiefen Schmerz hervor, daß er mit Angstschüben übersät zu sein schien. Der Tod überraschte mich sehr, mich, die ihn immer als Beweis der regelmäßigen und wirkungsvollen Arbeit der Natur angesehen hatte! Daß ich meinen geliebten Vater nie wieder sehen würde, durchtränkte mich mit tiefem, giftigem, fauligem, ekligem, zähem Kummer, einem Schmerz, der nicht dem Geruchssinn, sondern nur dem Geist wahrnehmbar war.
Dennoch gab ich mich nicht der Trübsal hin, und noch weniger der Verzweiflung. Ich mußte die Verwünschungen durchkreuzen und Dich zur Welt bringen, um Dir Kummer und Verzagen zu ersparen.
Die meiste Zeit meines Lebens, bald in den Abkürzungen meiner Unruhe, bald in den Alleen meiner Erschöpfung, habe ich nur an Dich gedacht. Meine Opfer waren immer frei vom Aus-satz eines unziemlichen Egoismus.